Ausgewählte Kritiken - Rezensionen  
 
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Rezension "Der Wiener Brunnenmarkt"  
"Buchkultur - Österreich Spezial 2003", Herbst 2003
   
   
 
     
 
 
     
  Manfred Chobot/Petra Rainer  
   
 
Der Wiener Brunnenmarkt
  Der Wiener Brunnenmarkt
     
    Text Manfred Chobot      
    Fotos Petra Rainer      
    2003, Wien, Holzhausen      
    133 Seiten, 70 Abb.      
    € 28,--      
           
               
 
   
     
 
Pralles Leben
 
     
 

Seit dem Herbst 1978, also seit rund 25 Jahren, hat die Kräuterfrau Libusa, die "Kräutlerin", einen Stand am Brunnenmarkt. Sie wollte sich verändern, etwas mit Pflanzen machen. So hat sie damals einen Stand übernommen und das Angebot ausgeweitet. Gewürze aus der ganzen Welt kamen dazu. Heute verkauft sie auch Kräuter, Hülsenfrüchte, hat mindestens fünf Sorten Reis im Angebot sowie Nüsse aller Art. Zu Weihnachten kommen noch Aranzini, kandierte Orangenschalen oder als Spezialität "Angelika" hinzu. Dafür wird eine Angelikastaude in Zuckerwasser gekocht und grün gefärbt. Damit verziert man Lebkuchen oder Marzipan. Libusa hat einen von rund 200 fixen Ständen am Brunnenmarkt. Eine fixe Adresse, da sie auch weiß, wie man die Kräuter und Gewürze verwendet. Sie stammt aus Kroatien, aber ihre Muttersprache ist Tschechisch. "Ein Überbleibsel der Monarchie", sagt sie. "Unsere Familie war dreisprachig: Deutsch, Kroatisch und Tschechisch, aber zu Hause in erster Linie Tschechisch. Diese deutsche Sprache wollte ich eigentlich nie lernen, habe gedacht, ich werde sie nie brauchen. Derweil ich doch im deutschen Sprachraum geblieben, letztendlich." Mit ihrer Herkunft passt Libusa genau in das multikulturelle Völkergemisch, das am Brunnenmarkt eine starke Ausprägung gefunden hat. Besonders beim Handel mit Obst und Gemüse lassen sich mehrere Wellen der Zuwanderung feststellen. Dazu ist kein Befähigungsnachweis erforderlich, aber harte Arbeit. Eingebürgert wurden zuerst die Bulgaren, dann die Griechen, danach kamen Jugoslawen und schließlich Türken. Auch Menschen aus Indien oder Russland leben hier. Viele Ausländer wohnen in den naheliegenden Straßen und die kaufen auch gerne bei ihren Landsleuten ein.

Mit einer Länge von mehr als einen halben Kilometer ist er einer der längsten Straßenmärkte Europas. Zu den 200 fixen Ständen kommen noch einmal soviel Geschäfte in der zweiten Reihe, den Häusern der Brunnengasse sowie ein Dutzend ambulanter Stände, die jeden Tag aufs Neue unter den Anwärtern ausgelost werden. Dort werden meist Textilien und Spielzeug verkauft.

Es ist ein offener Markt, deshalb müssen jeden Tag um 5 Uhr in der Früh die Stände aufgebaut und nach zehn Stunden am Abend wieder abgebaut werden. Bei jedem Wetter, ob es schwül, heiß ist oder brennend kalt. Vorher wird noch am Großmarkt in Inzersdorf die frische Ware eingekauft. Früher gab es am angrenzenden Yppenplatz noch zahlreiche Großhändler, doch nach einem Brand sind sie bis auf wenige abgezogen.

Manfred Chobot hat die Menschen am Brunnenmarkt porträtiert. Er selbst könnte auch Geschichten über das Leben am Markt erzählen, denn seine Eltern und Großeltern besaßen einen Lebensmittelhandel am Yppenplatz. Chobot stellt keine abgeschliffenen Geschichten zusammen, sondern lässt die Menschen selbst erzählen, von ihrer Herkunft, ihrer Vergangenheit, ihren Träumen und ihrer Zukunft. Ganz nahe kommt man da dem Kebabverkäufer oder der Frau Christine, einer Standlerin, dem Bio-Martin oder der Frau Svoboda. Chobot sprach mit den Menschen aus der ersten Reihe, den Obst- und Gemüsehändlern, aber auch mit jenen aus der zweiten Reihe, die in den Häusern ihre Geschäfte haben und von den Ständen fast verdeckt werden, wie dem türkischen Fleischhauer Nihat, der Bäckerei Gül oder der Kristina Müller, die jahrelang schon ein Café führt und die Geschichte der letzten Jahre aus eigenem Erleben kennt und den Wandel mitgemacht hat. Sie kann sich noch erinnern, wie der Yppenmarkt 1971 abgebrannt ist. Seit 43 Jahren führt sie schon ihr Café. Um vier in der Frühe sind die Marktfahrer und Standler zu ihr gekommen auf ein Frühstück oder nur einen Kaffee. Heute darf man schon um drei öffnen, doch um zwei Uhr muss man zusperren. In diesen Stunden wird geputzt und gelüftet. Während sie früher fast alleine war, gibt es heute in der Gegend eine lebendige Lokalszene.

Alle erzählen in ihrer eigenen Sprache, manchmal eloquent, flechten Anekdoten ein, andere wieder kämpfen mit der Sprache und können sich schwerer ausdrücken. Chobot lässt sie reden. Entstanden ist so ein sehr persönliches Porträt einer ganz eigenen und sehr bunten Gesellschaft, die sich rund um den Brunnenmarkt gebildet hat. Er ist nicht so touristisch-fotogen wie der Naschmarkt, dafür erdiger, praller.

Ein "Gesicht" bekommen die Geschichten der Menschen am Brunnenmarkt durch Petra Rainer. Die Salzburger Fotografin hat einige Monate die Verkäufer an den Ständen, die Kopftuchhändlerin oder die Kräutlerin begleitet und ein eindringliches Panorama der Gesichter und des Marktes eingefangen.

 
   
 
 
     
     
     
 
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