Ausgewählte Kritiken - Rezensionen  
 
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Rezension "Stadtgeschichten" - Helmuth Schönauer  
"Podium", Nr. 112, Oktober 1999
   
   
 
     
 
 
     
  Manfred Chobot  
   
 
  Stadtgeschichten
     
    Erzählungen      
    1999: Weitra, Bibliothek der Provinz      
    € 19,00      
           
           
           
               
 
   
     
 

Während man an anderen Orten die Stadtschreiberei oft umständlich zelebriert und kurz darauf am Friedhof von Inkognito begräbt, hat für Wien und Umgebung Manfred Chobot diese Aufgabe mustergültig gelöst: Er hat sich quasi selbst als Stadtschreiber ausgerufen und mit kompetentem Blick Wien und seine Bewohner literarisch ins Visier genommen. Unter dem sachlichen Titel "Stadtgeschichten" verbergen sich an die hundert Begebenheiten, die die Stadt zum Leben erwecken und auf dem Stadtplan alle Stückeln des Lebens spielen. Die Geschichten sind immer so angelegt, daß man sie tatsächlich erzählen kann. Und nach dem Motto "Stell Dir vor, was neulich passiert ist!" prägen sich die Erzählungen wie Pointen ins Gedächtnis des Leser, so daß dieser in kürzester Zeit ein Sittenbild des Alltäglichen von Wien im Kopfe hat.

Ehrensache, daß Manfred Chobot in der Hauptsache den Alltagsgeräuschen und Seitengesprächen nachspürt. Seine Helden leben in Seitengassen, seine Informanten lehnen oft wie zufällig an Nebenfronten und stochern in Sackgassen des Überlebens herum.

Aus dem größten Zufall heraus kann sich plötzlich die schönste Geschichte erheben. Das Meisterstück, das bereits die Luzidität einer Borges-Geschichte aufweist, berichtet von einem Stromstillstand, der beinahe den Lebensstrom vernichtet. Weil die Mutter des Erzählers in ein Pflegeheim übersiedelt ist, macht der Stromzähler mangels Verbrauch keinen Mucks mehr. Der Strommeister muß solche Fälle zuerst melden und anschließend untersuchen, weshalb er vorschlägt, wenigstens eine Kilowattstunde berechnen zu dürfen, damit die mühseligen Recherchen unterbleiben können. In dieser Szene ist genau beschrieben, wie die Gebrauchsvernunft über die vorgeschriebene Vernunft siegt, wie sich der Alltag gegen die Bürokratie behauptet und wie ein dreidimensionaler Bewohner noch allemal die Ebene des Formulars besiegt.

Chobots Geschichten spielen immer wieder in Ämtern, Bezirksverwaltungen, wobei die niedrigen Chargen durchaus Sympathie bekleiden dürfen, denn schließlich sind sie nur durch einen blöden Zufall keine Beamte und nicht Partei geworden.
Mülltrennen, U-Bahn-Profis, Jogger oder Raucher im Kampf gegen die Nichtraucher sind weitere Berufs- und Freizeitsparten, aus denen jederzeit ein Sieger hervorgehen kann.

Selbst am Friedhof gibt die Bürokratie keinen Frieden, damit der geschlauchte Mensch über den Tod hinaus um sein Leben kämpfen muß.

Manfred Chobots Stadtgeschichten sind jeweils zum richtigen Zeitpunkt al dente erzählt, so daß sie mit ihrem Treibsatz der Spontaneität sich durchaus über die gedankenlose bloße Gegenwart hinwegsetzen.

Mit großen Atem gesprochen: Manfred Chobots Geschichten retten die Stadt vor dem Verfall der Erinnerung!

 
   
 
Helmuth Schönauer
 
     
     
     
 
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