Ausgewählte Kritiken - Rezensionen  
 
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Rezension "Stadtgeschichten" - Helmut Eisendle  
"kolik", Nr. 6, Wien 1999
   
   
 
     
 
 
     
  Manfred Chobot  
   
 
  Stadtgeschichten
     
    Erzählungen      
    1999: Weitra, Bibliothek der Provinz      
    € 19,00      
           
           
           
               
 
   
     
 

Wenn einer wie Manfred Chobot sich über eine Stadt hermacht, weiß er, was er tut. Er ist hier geboren, lebt hier und hat sich auch in seiner Literatur viel mit ihr abgegeben. Und doch behandelt er nicht das vielgeliebte Schöne, das sehr verlogene Nostalgische und das andere, eben den Steffl, den Heurigen, Schönbrunn oder gar Sisi und das Belvedere. Er befasst sich, meine ich, eher mit dem vorhandenen oder auch fehlenden Charakter dieser Metropole, kurz der Atmosphäre oder Seele der Bewohner.

Natürlich weiß auch er das, was Peter Rosei, auch ein Wiener, einmal geschrieben hat: Die Wahrheit ist die beste Lüge.
"Das Rathaus ist ein phänomenales Bauwerk, hinter dem sich ein tiefer symbolischer Sinn verbirgt: nämlich der Architektur gewordene Ausdruck einer Gesinnung."

Mit diesem ersten Satz der Prosasammlung wirft Chobot eine Frage auf, die er in 99 Geschichten zu beantworten sucht. Das Gelingen allerdings hängt - und das weiß er genau - nicht vom Inhalt oder der Beschreibung, sondern von der endlichen oder unendlichen Erfahrung des Lesers mit der Stadt ab.

"Von Auswärtigen wird den Wienern vorgehalten, sie würden sich gebärden, als gäbe es alles und jedes in ihrer Stadt. Ein Vorurteil, das berechtigt ist: in der Lustkandlgasse die Eheberatung; auf dem Fleischmarkt die Abtreibungsklinik; auf der Lange Gasse eine Kurzstreckengrenze; und in der Rechten Wienzeile den sozialistischen Vorwärts-Verlag, den die politische Entwicklung durch eine Pineapple-Hotel ersetzt hat; nächst dem von Nudisten frequentierten Wasserschutzgebiet der Lobau gibt es einen Ölhafen und die Lager der ehemals staatlichen Mineralölfirma OMV; die Nackten, das Erdöl und das Sonnenöl."
Dieser farbenfrohe, leicht ironische Bilderbogen, den Chobot uns zeigt, kommt der Wahrheit nahe, oder sollten wir besser sagen: entgegen?

Ob sie, die Wahrheit, wirklich so oder anders oder überhaupt, wenn, dann vielleicht böser ist, bleibt mir, einem Steirer, der seit Jahren freundlich als Fremder behandelt wird, unklar.

Eine Atmosphäre, welche dieses Buch mit seinen Geschichten vermitteln will, hat einfach mit einem schmutzigen Fluß oder der schönen, blauen Donau, mit dem schwülen Sommer oder dem Wind aus dem Wienerwald, mit der elenden Geschichte der Monarchie oder einer glorreichen Zukunft der Zweiten Republik zu tun; mit der Ausländerfeindlichkeit, dem Judenhaß oder dem strahlenden Tourismus und der Kultur dieses Landes, repräsentiert durch Joseph Roth aus Brody, Sigmund Freud aus dem mährischen Pribor, Sacher-Masoch aus Lwow in der Unkraine. Eben mit bedeutenden und unbedeutenden großen und kleinen Menschen, die in dieser Stadt schon immer, gestern, heute, morgen oder in Zukunft leben; voll mit Vorurteilen, mit Charme, der doch die höflichster Form der Lüge ist, mit Freund- und Feindschaften; von den Verhältnissen dieser Menschen zueinander, gegeneinander, von allem, was mit ihnen zu tun hat.

Ja, davon handelt dieses Buch; von Menschen in dieser komischen Stadt, die eben schön und häßlich zugleich, klug und idiotisch zugleich, ehrlich und hinterhältig zugleich, eben so und zugleich anders ist.

Und doch: Bei den schönen Photographien hätte ich gerne einen Ausländer gesehen, der in einer Sprechblase sagt: Wien, gut, meine Stadt, du versteh'n?

 
   
 
Helmut Eisendle
 
 
 
     
     
 
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